Von der Aktualität einer christlichen Tugend

12. September 2008 Neuigkeiten

Barmherzigkeit: das ist das göttliche Überraschungsmoment. Sie ist freie Gabe und Perspektive öffnende Haltung – von Gott geschenkt und zur Nachahmung empfohlen. Das meinten die Clemensschwestern, die statt einer Chronik zum 200-Jährigen ein Buch zum Thema herausbringen. Enthalten sind darin auch Texte der "kirchensite.de"-Mitarbeiter Almud Schricke, Michael Bönte und Norbert Göckener.


Barmherzigkeit verändert

Das alte Wort “Barmherzigkeit” ist nach Überzeugung der Clemensschwestern aktueller denn je. “Mit dem Buch möchten wir Sie einladen zur ‘verändernden Barmherzigkeit’. Wir möchten damit deutlich machen, dass unser Jubiläum Anlass ist, Gottes Botschaft an uns ein Gesicht zu geben für diese Welt”, erklärt Generaloberin Schwester Christel Grondmann im Vorwort zum Buch “Barmherzigkeit verändert”. Sie ist überzeugt: “Barmherzigkeit verändert, je mehr wir uns darauf einlassen.”

Ein Wesenszug Jesu

Namhafte Autoren widmen sich in dem Werk dem vielfältigen Thema und zeigen dabei Facetten eines das Leben bereichernden Weges auf.

Jesus Christus, Gottes menschliches Gesicht, ist auch ein Spiegelbild der göttlichen Barmherzigkeit. In seinem Beitrag geht Bischof em. Reinhard Lettmann diesem Wesenszug des Sohnes Gottes nach. Der Bischof verdeutlicht, dass Jesus uns Gott nahe bringt und hilft, dass auch wir ein Herz füreinander haben.

Technik und Organisation kann nicht alles

Er schreibt: “Wir kennen die Redewendung: Er tut das bloß aus Barmherzigkeit, aus lauter Gnade und Barmherzigkeit. Ein solches Wort hat einen unguten Beigeschmack. Es klingt herablassend und geringschätzig. Daher kommt es, dass das Wort Barmherzigkeit nicht überall hoch im Kurs steht. Doch sollten wir den Mut haben, es gegen eine solche Abwertung zu schützen und in seinem gefüllten positiven Sinn zu gebrauchen.

Wir müssten uns nicht erst von Politikern sagen lassen, wie wichtig die Barmherzigkeit für das menschliche Leben ist. Planung, Technik und Organisation können nicht alles leisten, wessen der Mensch bedarf. Wir warten darauf, dass jemand ein offenes Herz für uns hat. Auf diese personalen Beziehungen verweist das Wort Barmherzigkeit. Jesus hat ein Herz für die Menschen. So haben ihn die Jünger erlebt. In Jesus Christus offenbart sich die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes.”

Für andere…

Der Neutestamentler Thomas Söding verstärkt dieses Bild: “Das Gleichnis vom Weltgericht setzt eine ganze Christologie ins Bild. Je klarer vor Augen steht, dass Jesus nicht für sich selbst, sondern für andere gelebt hat; je deutlicher das Bekenntnis wird, dass in der Hingabe seines Lebens das Heil der Menschen beschlossen liegt – desto sprechender wird das Bild des Gleichnisses. Wenn Jesus das Beispiel des barmherzigen Samariters erzählt, liegt es nahe, dass er selbst den Samariterdienst leistet (Lk 10,25-37): Er selbst ist der ›Arzt‹ der Kranken (Mk 2,17) – kein Zauberer, sondern ein ‘Heiland’, der die körperliche wie die seelische Not der Menschen lindert. Der arme Lazarus, der vor der Tür des Reichen liegt, ist Jesus sichtlich ans Herz gewachsen (Lk 16,19-31): Er selbst ist der Menschensohn, der ‘nichts hat, wohin er sein Haupt betten könnte’ (Lk 9,58).”

Ein Vertrauensverhältnis

Der Kapuziner und Dogmatiker Ludger Schulte macht deutlich: “Gestern wie heute tun sich Menschen schwer, Jesus zu verstehen, den hingebend Liebenden, der sich in Schwachheit hüllt. Das Christentum ist nicht selbstverständlich. Viele wollen lieber etwas Großes, politische oder soziale Macht als etwas so Kleines wie diese Liebe. Wie viele Christen wollen eine starke und einflussreiche Kirche, an der man in dieser Welt einfach nicht vorbeikommt! Sie denken: Ist die Kirche groß, dann ist auch Gott groß; geht niemand in die Kirche, kann es auch mit diesem Glauben nichts sein. Jesus ist nicht der überragende, unnahbare, sich gütig und gerecht herablassende Führer, nicht der große König, der die Menschheit in Gerechtigkeit, Harmonie und Frieden neu organisiert. …

Jesus kam nicht, um ein großer Politiker zu sein, sondern ein Liebender, der sich den Menschen liebevoll zuwendet, der sie befähigt, zu lieben, wie er liebt. Er kam, um seine innige Beziehung der Liebe zum himmlischen Vater zu offenbaren. Er wollte, dass auch wir in dieses Vertrauensverhältnis gelangen, und zwar dadurch, dass wir in ein Vertrauensverhältnis zu ihm gelangen. Wenn wir sein Fleisch essen und sein Blut trinken, d. h. die Eucharistie feiern, ist die Beziehung der Liebe gegeben: seine Hingabe und unsere ersehnte Antwort.”

Erlebbare Barmherzigkeit

Das Beichtsakrament als konkrete Form der erlebbaren Barmherzigkeit Gottes stellt Domkapitular Christoph Hegge in seinen Ausführungen vor: “Gemeinsam vor Gott können getrost alle Masken fallen, weil Gott in Jesus Christus für uns zum ›Bettler‹ der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit geworden ist und die Priester in seinem Dienst stehen und handeln. Schließlich sind vor Gott ohne Ausnahme alle Menschen erbärmlich und zugleich erbarmungswürdig.

Wir dürfen uns daher getrost an den schwächsten Punkten unserer menschlichen Existenz begegnen lassen, weil im Priester Christus selbst mit uns dort steht, es mit uns dort aushält, voller Bemühen um unsere ehrliche Bekehrung und erfüllt von der Sendung, uns im Namen Jesu Christi die Vergebung, die Versöhnung und den Frieden Gottes zu schenken, die wir uns selbst nicht schenken können.”

Barmherzigkeit praktisch

Claudia Kunz, Referentin im Bereich Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz mit den Schwerpunkten Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste, umreißt ein ganz praktisches Werk der Barmherzigkeit: die Gastfreundschaft.

Sie schreibt: “Was wir heute brauchen, sind Menschen und Gemeinschaften, in denen Geschichten von Barmherzigkeit erzählt und so anschaulich werden, dass anderen unmittelbar einleuchtet, was es mit dem Evangelium Jesu Christi auf sich hat. … Die Praxis der Gastfreundschaft in der Alten Kirche zeigt die Grundlagen einer Gemeinschaft, die Barmherzigkeit als ihre bleibende Weisung versteht; sie macht deutlich, dass es vor allen Werken der Barmherzigkeit auf die Weise ankommt, Beziehung und Gemeinschaft zu leben, nämlich auf gastfreundliche Weise zu leben.”

Solidarität – gemeinschaftlich und persönlich

Barmherzigkeit buchstabiert sich nach Darlegung des katholischen Sozialethikers Peter Schallenberg im staatlichen Kontext als Solidarität und beginnt bei der Solidargemeinschaft des Staates, in der Menschen für Arme, Alte und Kranke, aber auch für Ungeborene eintreten, und sich solidarisch zeigen.

Schallenberg nimmt allerdings auch den Einzelnen in die Pflicht: “Barmherzigkeit mit dem Armen und Solidarität mit dem Nächsten meint Denken vom anderen her, Frage nach den Wünschen und Sehnsüchten des Mitmenschen, Rücksicht und Weitsicht über den eigenen Tellerrand hinaus, Bereitschaft zu Risiko und Sprung über den eigenen Schatten des selbstzufriedenen Lebens. …

Aber die unruhige Frage unseres Lebens und jedes Tages bleibt: Bemühe ich mich wirklich mit allen meinen Kräften? Vielleicht ist es das letztlich, was Augustinus meint, wenn er betet: ‘Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, o Gott!’ Das wäre die heilsame und im wahrsten Sinne radikale, weil an der Wurzel verankerte Unruhe des Christen: Kaufe ich die Zeit meines Lebens aus? Nutze ich die mir von Gott geschenkten Talente und Fähigkeiten? Erkenne ich den Mitmenschen, der hungert, dürstet, friert, notleidend, gefangen oder krank ist?”

Text: göc, 12.09.2008 / Foto: Michael Bönte

Norbert Göckener (Hrsg.):

“Barmherzigkeit verändert. Facetten eines lebensbereichernden Weges”Im Auftrag der Clemensschwestern aus Anlass des 200-jährigen Bestehens der “Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria”.

234 Seiten, zahlreiche Farbfotografien,

14,80 €, dialogverlag Münster

ISBN 978-3-937961-94-1


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